Simultanturniere in Kempten

Nicht nur das Schachspiel als solches, sondern auch Simultanturniere im Speziellen haben in Kempten eine lange Tradition. Viele namhafte Spieler haben sich dabei die Ehre gegeben, und wir können auf einen faszinierenden Fundus an Anekdoten und begeisternden Partien aus vielen Jahrzehnten zurückblicken.

 

Am 20. September 2003 fand im Rahmen der Feierlichkeiten zum 125-jährigen Vereinsjubiläum mit Großmeister Matthias Wahls das bisher letzte Simultanturnier in Kempten statt. Zu diesem Anlass hat unser Schachfreund Rudi Martin unter Mithilfe von Günter Brunold, Claus Fischer und Hans Sontheim einen Überblick über die Kemptener „Simultanturnier-Historie“ zusammengestellt. Dieses Werk möchten wir nun an dieser Stelle wiedergeben. Freuen Sie sich auf vergnügliche Begebenheiten und spannende Duelle, die heute noch ebensoviel Freude bereiten wie vor vielen Jahren, als sie sich auf und am Rande des Schachbretts ereignet haben.

 

Wegweiser:

 

Überblick

Im Schachclub Kempten war es, wie wohl in allen Schachclubs, die ein reges Vereinsleben führten, Brauch, gelegentlich Schachmeister zu einem Simultanturnier oder, wie man vor dem 2. Weltkrieg sagte, „Reihenspiel“ einzuladen. Damit konnte man den Mitgliedern des eigenen und der Nachbarvereine attraktive Veranstaltungen bieten, die oft auch Zuschauer aus anderen Kreisen anlockten. Andererseits waren Großmeister zum Teil auch darauf angewiesen, ihr Einkommen durch solche Turniere aufzubessern. So unternahmen sie auch Rundreisen, auf denen sie von Stadt zu Stadt reisten und ihre „Dienste“ als Simultanspieler anboten. Des öfteren gaben auch gute Spieler des eigenen Vereins solche Wettkämpfe, wie zum Beispiel Xaver Lederle, Friedrich Kutter und Bernhard Rothenbücher.

 

Nachstehend eine Übersicht über die (bisher) bekannt gewordenen Simultanveranstaltungen des Schachclubs Kempten:

Datum

Name

Spielort

+

-

=

07.07.1921

Xaver Lederle

Café „Schiff“

7

1

4

07.03.1925

Hermann Roth

Gasthaus „Storchennest“

8

7

3

13.03.1926

Hermann Roth

Café „Schmid“

12

6

2

23.01.1927

Josef Huber

Café „Schiff“

15

6

5

27.04.1930

GM Efim Bogoljubow

Christliches Hospiz

28

4

7

01.11.1930

Bock Bahnhofsrestauration 14 3 5

20.02.1932

Josef Schindler

Bahnhofsrestauration

14

1

13

16.09.1933

Paul Tröger

Café „Miller“

21

1

2

07.03.1936

Dr. Paul Tröger

Bahnhofsrestauration

17

3

1

26.04.1937

Dr. Paul Tröger

Roter Saal der Bahnhofsrestauration

40

2

5

14.08.1937

GM Fritz Sämisch Roter Saal der Bahnhofsrestauration (Blindsimultan) 6 1 3

28.10.1938

Werner Springe

Café „Miller“

?

?

?

12.04.1947

Dr. Winfried Lange

 

15

2

2

04.01.1948

Dr. Paul Tröger

 

22

1

4

15.07.1948 GM Efim Bogoljubow Restaurant „Röck“ 36 8 4
16.07.1948

GM Efim Bogoljubow

Restaurant „Röck“ (Blindsimultan) 26 2 1

19.01.1950

GM Efim Bogoljubow

Restaurant „Röck“

40

4

7

31.10.1953

GM Fritz Sämisch

Restaurant „Kreuzstraße“

30

3

8

06.12.1958

GM Wolfgang Unzicker

Silbersaal der
Bahnhofsgaststätte

32

6

0

07.01.1961

GM Erich Eliskases

Katholisches Vereinshaus

31

5

4

18.06.1961

GM Svetozar Gligoric Großer Kornhaussaal 27 5 0

23.11.1963

IM Sigmund Wolk

Gasthaus „Frühlingstraße“

12

4

3

24.11.1963

IM Sigmund Wolk

Gasthaus „Frühlingstraße“
(Blindsimultan)
2 2 2

01.11.1965

GM Klaus Darga

Gaststätte „Stift“

23

1

6

28.01.1982

GM Raymond Keene

Hauptsparkasse

24

0

12

17.05.1992

GM Vlastimil Hort

Haus „Hochland“

30

2

8

20.09.2003

GM Matthias Wahls

Haus „Hochland“

13 4 0

 

Erste Anläufe

Das erste Simultanturnier hätte eigentlich 1910 mit dem Großmeister Mieses stattfinden können, scheiterte aber daran, daß zu dieser Zeit das Schachvereinsleben in Kempten gerade im Tiefschlaf lag. Wie in der Chronik des Schachklubs Immenstadt nachzulesen ist, teilte "Herr Doktor Krafft [nach der „Allgäuer Zeitung“ 1912 ein Spezialarzt für Augenkrankheiten] aus Kempten mit, daß dort Gelegenheit geboten wäre, am Simultan- oder Blindspiel des bekannten Schachmeisters Mieses aus Leipzig einen interessanten Abend mitzumachen, vorausgesetzt, daß dessen gefordertes Honorar aufgebracht werde. Nun besteht in Kempten merkwürdigerweise kein Schachklub. Es müßte aus diesem Grunde außer privaten Zeichnungen von den Clubs in Memmingen, Kaufbeuren und Immenstadt für einen Betrag von 15 M garantiert werden, um das Zustandekommen dieser Veranstaltung zu bewerkstelligen. An letzterem Umstand scheiterte das Unternehmen, und Herr Dr. Krafft mußte dem Schachmeister abschreiben.

 

Das „Kemptener Tag- und Anzeigeblatt“ teilt am 17.02.1910 mit: „Mangels einer Organisation der Schachfreunde in Kempten ist es nicht möglich, die seitens des Schachgroßmeisters Herrn J. Mieses aus Leipzig geplante Schachveranstaltung stattfinden zu lassen. Nun hat der Schachklub in Memmingen den Meister eingeladen, der sich zu einem Besuche bereit erklärte. Die für alle Schachfreunde interessante Veranstaltung findet am Sonntag, 20. Februar, nachmittags halb 3 Uhr im Gasthaus zum „Goldenen Bären“ statt. Die Schachklubs in Kaufbeuren, Neu-Ulm und Immenstadt und auch die hiesigen Schachfreunde sind dazu eingeladen.“ Immerhin beteiligten sich zwei Spieler aus Kempten an dieser „Blindlingsvorstellung“, nämlich Dr. Krafft und Kaufmann Nolte. Sie spielten eine Partie gemeinsam und konnten diese auch gewinnen.

 

Die ersten Turniere

1921 gab das Ehrenmitglied, Oberamtmann und Vorstand Xaver Lederle, ein Turnier. Die „Allgäuer Neuesten Nachrichten“ schreiben dazu: „Das angekündigte Simultanspiel des Herrn Oberamtmann Lederle hat einen interessanten und für beide Teile befriedigenden Verlauf genommen. Anfangs, die erste halbe Stunde, herrschte unter den 12 Spielern, darunter 2 Gästen, reger Meinungsaustausch; allmählich aber verstummte einer nach dem anderen, gefesselt von Kaissa; nach einer Stunde legte sich bereits friedliche Stille über den Raum. Nach 1½ Stunden mußte der erste daran glauben, nach 7/4 Stunden der zweite, nach 2 Stunden der dritte und der vierte, nach 2¼ Stunden gewann endlich einer (er blieb der einzige!), nun aber hielt sich ein kleines Häufchen wackerer Spieler, dann verlor wieder einer, und nach 3 Stunden seit Beginn endigten die übrigen Partien fast ziemlich gleichmäßig, eine mit „pat“ und vier mit „remis“. 6 Partien hat der Verein verloren, bei 10 Spielern und der Routine des gewiegten, alten Meisters eine zufriedenstellende Zahl. Die Gäste waren unter den Verlierenden, aber trotzdem glauben wir, werden sie es nicht bereut haben, sich die Sache angesehen und mitgemacht zu haben.“

 

Auch der Kaufbeurer Meister Roth gab öfters Simultanturniere in Kempten. Der Bayerische Meister Huber und der Deutsche Meister Schindler aus München waren in den Zwanziger Jahren ebenfalls zu Gast. Sie wurden auch vom „Schachverein Allgäu“ eingeladen, der bis 1933 die örtliche Konkurrenz zum Schachclub in Kempten bildete. Dieser Verein veranstaltete folgende Turniere:

Datum

Name

Spielort

+

-

=

01.05.1927

Hermann Roth

Café „Schiff“

7

5

1

10.03.1928

27.10.1928

Joseph Schindler

Joseph Schindler

Café „Schiff“

Café „Schiff“

13

8

2

1

5

2

10.03.1932

Surmann

Café „Miller“

5

3

1

28.01.1933

04.03.1933

Gustav Rogmann

Efim Bogoljubow

Café „Miller“

Café „Miller“

19

27

3

1

6

5

Er lud den Essener Hauptturnierspieler Surmann und (zum zehnjährigen Vereinsjubiläum 1933) den westfälischen Meister Gustav Rogmann ein. Das „Allgäuer Tagblatt“ schreibt dazu am 4. Februar 1933 in seiner Schachecke: „Zum Abschluß der Feier gab der Westfälische Meister Gustav Rogmann am Samstag, den 28. Januar, im Café Miller eine Simultanvorstellung an 28 Brettern mit folgendem Resultat: 19 gewonnen, 3 verloren, 6 remis. Gewonnen haben Herb, Fischer und Wilhelm, Remis spielten Häfner, Baur, Kießling, Wiedemann, Dr. Wittmer und G.Rothenbücher. Die ersten 6 gehören dem Schachverein Allgäu, die folgenden zwei dem Schachklub Kempten an. Nachstehend bringen wir eine Partie aus der Vorstellung. [Georg Wilhelm war der Schriftleiter des „Allgäuer Tagblatts“ für den Schachverein Allgäu.]:

Weiß: Rogmann, Schwarz: Wilhelm
1.e4 e6 2.b3 d5 3.Lb2 Weiß gibt einen Bauern, um ihn später bei besserer Stellung zurückzugewinnen. 3...d4 4.f4 c5 5.Sf3 Sc6 6.g3 Sf6 7.d3 Le7 8.Lg2 b5 9.0–0 0–0 10.Sbd2 Tb8 11.Lc1 Schwarz drückt stark in der Mitte. 11...a6 12.e5 Sd5 13.Se4 Lb714.De1 h6 15.Ld2 b4 Schwarz nimmt Weiß sämtliche schwarzen Felder. 16.Lc1 a5 17.Sfd2 Führt zum Verlust der Partie. 17...Se3 18.Df2 Sxc2 19.Tb1 Se3 20.Te1 Sxg2 Durch diesen Abtausch bekommt der Lb7 eine starke Wirkung. 21.Dxg2 f5 22.Sd6 Weiß opfert einen zweiten Bauern, um Druck auf der e-Linie zu bekommen. 22...Lxd6 23.exd6 Dxd6 24.Sc4 Dc7! Wenn 25.Txe6, dann Sd8. 25.Dh3 Tf6 26.Te2 Kh7 27.Ld2 Te8 28.Tbe1 Tg6 29.Se5 Sxe5 30.Txe5 Db6 31.Tc1 Ld5 Schwarz hat jetzt seine Stellung so gesichert, daß ihm kaum noch etwas geschehen kann. 32.Df1 Ta8 33.Tc2 h5 34.Dc1 Tc8 35.Le1 Db5 36.Dd1 Kh6 37.Lf2 Tc6 38.De2 h4 39.Kf1 h3! 40.Txd5 Ein letzter Befreiungsversuch. 40...exd5 41.De8 Droht Matt auf h8. 41...Dxd3+ 42.Te2 Die Partie ist nicht mehr zu halten. 42...Tge6 aufgegeben“

 

diese Partie nachspielen 

 

Efim Bogoljubow

Der „Schachverein Allgäu“ lud auch 1933 den Großmeister Bogoljubow ein, der in Kempten zum ersten Mal 1930 und dann noch 1948 und 1950 zu Gast war.

 

Die „Allgäuer Zeitung“ schreibt zu seinem ersten Besuch im Mai 1930 in der Schachecke: „Am Sonntag fand in Kempten die vom Allgäuer Schachverband veranlaßte Simultanvorstellung des international berühmten Großmeisters Bogoljubow statt. Der Saal des Christlichen  Hospizes gab hierzu einen würdigen Rahmen. In Anbetracht des schönen Wetters war der Besuch der Veranstaltung ein zufriedenstellender. Nach dreistündiger Verspätung betrat der Meister die Kampfstätte, von den Anwesenden lebhaft begrüßt. Nachdem Herr Westenrieder als Vorsitzender des ASB eine kurze Ansprache an ihn gehalten hatte, stellten sich 39 Damen und Herren zum Kampfe. Die Zuschauer verfolgten mit lebhafter Spannung die oft verblüffenden Züge des Schachgenies. Durch seine witzigen Bemerkungen erzielte Bogoljubow Lacherfolge bei Spielern und Zuschauern. Nach 3,5 Stunden waren alle Partien beendet, das Resultat war folgendes: Gewonnen wurden von dem Meister 28 Partien, verloren 4 und 7 wurden remis. Die Sieger waren: Oberregierungsrat Wagner (Schachklub Kempten), De Lama (Schachklub Füssen), Breher (Schachklub Memmingen) und Gögl (Schachklub Kaufbeuren). Remis erzielten Häfner, Westenrieder, Kimmerle (Schachverein Allgäu Kempten), Rast (Schachklub Kempten), Rehm (Kempten), von Feilitzsch (Schachklub Füssen) und Jäger (Schachklub Kaufbeuren). Bemerkenswert ist der Erfolg der Füssener Vertreter, besonders des jungen de Lama, der schon vor kurzer Zeit dem Meister gelegentlich einer Simultanveranstaltung in Füssen ein Remis abringen konnte. Im übrigen ist das für Schachspieler in der Provinz schmeichelhafte Resultat wohl auf eine durch die lange Reise hervorgerufene Indisposition Bogoljubows zurückzuführen.

 

Bei der anschließenden geselligen Unterhaltung zeigte sich der Meister auch als geistreicher Plauderer. Für die Zuhörer war es sehr interessant., was er von seinen Erlebnissen in Sowjetrußland berichtete, ebenso, was er über die „Beziehungen“ der Schachmeister unter sich erzählte. Die Unentwegten baten zusammen um eine Beratungspartie, worauf Bogoljubow in bereitwilligster Weise einging. Er gab einen Turm voraus und drosch noch nebenbei einen Skat mit ihm unbekannten deutschen Karten. Trotzdem gewann er gegen die vereinten Bemühungen seiner Partner jede Partie in verblüffender Art. Als man sich in später Stunde von dem berühmten Gaste verabschiedete, wurde der Wunsch laut: Auf Wiedersehen in Kempten.“

 

Hierzu zwei Partien (mit Anmerkungen aus den Schachecken):

Weiß: Bogoljubow, Schwarz: Wilhelm (Schachclub Kempten)
1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 Sc6 4.Sc3 Lb4 5.e3 Sf6 6.Ld3 0–0 7.0–0 h6 8.a3 Lxc3 9.bxc3 Se7 10.Se5 c6 11.a4 Sd7 12.f4 f5 13.La3 Tf6 14.Tb1 Sg6 15.Ld6 Sgxe5 16.fxe5 Tg6 17.cxd5 cxd5 18.c4 Dg5 19.Df3 Sb6 20.cxd5 Sxd5 21.Tfe1 Ld7 22.e4 Sf4 23.exf5 Sxg2 24.Dg3 Dxg3 25.hxg3 Sxe1 26.Lc4 Txg3+ 27.Kh2 Tf3 28.fxe6 Lxa4 29.e7+ Kh7 30.Txe1 Tf4 31.Ta1 Lc6 32.Td1 g5 33.Ld3+ Le4 34.Lxe4+ Txe4 35.d5 g4 Hier mußte Tg4 geschehen 36.e6 h5 37.Tf1 Te2+ Um die f-Linie für den Turm zu gewinnen 38.Kg3 Te3+ 39.Kg2 Tf3 40.Lc7 Te8 41.d6 h4 42.Txf3 gxf3+ 43.Kxf3 Schwarz gibt auf.
Weiß: de Lama (Schachklub Füssen), Schwarz: Bogoljubow
1. Sf3 d5 2. c4 e6 3. d4 c6 4. a3 vermeidet die gefährliche Cambridge-Springs-Variante Sf6 5. Lg5 Sd7 6. Sc3 Le7 7. Dc2 0-0 8. e3 h6 9. Lf4 a6 10. Tc1 Te8 11. h3 c5 12. Ld3 cxd 13. exd dxc 14. Lxc4 Für den isolierten Mittelbauern hat Weiß die offene c-Linie als Ersatz b5 15. La2 Lb7! (sonst Sxb5) 16. b4 Sb6 17. Dd3 Tc8 18. Lb1 Lxf3 19. gxf Sfd5?? 20. Dh7+ Schwarz gibt auf.

Zum zweiten Besuch Bogoljubows 1930 schreibt das „Allgäuer Tagblatt“: „Ein auserlesener Genuß bietet sich heute abend allen Schachfreunden. Der internationale Großmeister Bogoljubow gibt heute Samstag, 4. März, im Lokal des Schachvereins Allgäu, Café Miller, eine Simultanvorstellung. Bogoljubows großes Können ist jedem Schachfreund hinreichend bekannt; gehört er doch schon seit zwei Jahrzehnten mit zu den stärksten Schachspielern der Welt. Wohl kein Schachfreund wird sich daher die sich wohl nie mehr für Kempten bietende Gelegenheit entgehen lassen, den großen Meister im Schachspiel bewundern zu dürfen. Der geringe Einsatz von Mk. 1 pro Brett dürfte es jedem leicht machen, an der Vorstellung teilzunehmen. Der Schachverein Allgäu ladet hiermit alle Schachfreunde zu der um 8 Uhr beginnenden Vorstellung herzlichst ein.“

 

Daß man mit seinem Besuch sehr zufrieden war, kann man dem „Allgäuer Tagblatt“ vom 6. März 1933 entnehmen: „Welche nachhaltige Wirkung das großartige Können des Schachvirtuosen seinerzeit [also 1930] hinterließ, geht schon daraus hervor, daß jeder wieder mit dabei sein wollte, der seinerzeit schon mit dem Meister gespielt hatte. Die Räume des Café Miller erwiesen sich fast zu klein, um die vielen Zuschauer zu fassen, die Bogoljubows Können bewundern wollten. Es kam dann auch jedermann voll auf seine Rechnung, denn was uns der Großmeister an 33 Brettern vorführte, war Schachspiel in Vollendung. Blitzschnelles Erfassen der Situation, wunderbare Kombinationszüge führten zu der Niederlage von 27 Gegnern. Mit verblüffender, geradezu mathematischer Genauigkeit sagte der Meister seinen Partnern das „Ende“ voraus. Manche Kemptener Schachgröße war bald erstaunt, als ein wuchtiger Angriff alle Kalkulationen über den Haufen warf und alle Hoffnungen zunichte machte. Die Ehre des Schachvereins Kempten rettete Herr Rasch, der als einziger den Großmeister nach sehr gutem, ideenreichem, äußerst spannendem und abwechslungsreichem Kampfe besiegen konnte. Die Herren Herb, Westenrieder, Lory, Spindler und Karmann leisteten Widerstand und konnten je ein ehrenvolles Unentschieden erringen. Aber auch die Besiegten hatten sich recht brav gehalten und das ganze Können Bogoljubows herausgefordert. Am längsten hielt sich Konditoreibesitzer Miller, der als letzter die Waffen strecken mußte.

 

Nach der Simultanvorstellung interviewte ich Bogoljubow, der mir dann erklärte: „Ich bin erstaunt und erfreut über den starken Widerstand, den mir die Kemptener Spieler geleistet haben. Die Spielstärke entspricht gutem Durchschnitt. Ich war heute gut disponiert und hätte neben der Simultanvorstellung gleichzeitig noch zwei Blindpartien spielen können, wenn sich Gegner gemeldet hätten. Ich bin jetzt 44 Jahre alt und spiele seit 27 Jahren Schach. Mein Geburtsort ist Stanislawtschik im Gouvernement Kiew. Den Krieg habe ich nicht mitgemacht, denn vierzehn Tage vor Ausbruch spielte ich in Mannheim bei einem internationalen Turnier; in Triberg wurde ich Zivilinternierter, wo ich mir auch die ersten Kenntnisse der deutschen Sprache aneignete. Seit vier Jahren bin ich Deutscher und seit zwei Jahren Deutscher Champion. Ich habe viele Turniere siegreich beendet. Im Wettkampf um die Weltmeisterschaft unterlag ich gegen Aljechin, den ich als den besten Spieler der Welt halte. In Turnieren habe ich ihn wiederholt besiegt. Mit Rußland stehe ich nicht mehr in Verbindung. Mit meinen Verwandten kann ich nicht einmal im Briefwechsel verkehren, da sich diese verdächtig machen würden, wenn sie vom Ausland Post empfangen. Die Zustände in Rußland sind unbeschreiblich, die Leute haben nichts zu essen, nichts zu trinken und wissen nicht, wo sie übernachten sollen. In Rußland gibt es keine Notverordnung, da nimmt man einfach alles ungefragt weg. Ich habe von Rußland genug, und in Deutschland gefällt es mir sehr gut. Als stärkste Eröffnung halte ich d2-d4. Meine größte Simultanvorstellung umfaßte 69 Bretter. Nur durch Training und Übung ist es möglich, mit Aussicht auf Erfolg große Simultanvorstellungen zu spielen.“ Bogoljubow zeigte nach der Vorstellung keinerlei Müdigkeit, obwohl er vier Stunden ohne Unterbrechung gespielt hatte. In bescheidenen Worten schilderte er seinen Lebenslauf, wobei ihm manchmal die Schwierigkeiten der deutschen Sprache mehr zu schaffen machten als manche Gegner am Brett.“

 

In der Schachecke des „Allgäuer Tagblatt“ vom 11. März 1933 erschien folgende Stellung aus der Partie von Bogoljubow (Weiß) gegen „H. H.“ (Schwarz, wohl Herr Herb):

 

 

Schwarz hatte zuletzt Tc5-c7? gespielt.

 

Wodurch entschied nun Weiß in wenigen Zügen?

Eine Woche später erschien die Partie Bogoljubow (Weiß) gegen Rasch (Schwarz), hier ohne Anmerkungen:

1.d4 d5 2.e3 e6 3.c4 c6 4.Sf3 Sf6 5.Sc3 Ld6 6.Ld3 Sbd7 7.0–0 0–0 8.e4! Lc7 9.cxd5 exd5 10.e5 Se8 11.Lxh7+ Kxh7 12.Sg5+ Kg8 13.Dh5 Sef6 14.Dh4 Sxe5 15.dxe5 Lxe5 16.Lf4 Dd6 17.Lxe5 Dxe5 18.Tfe1 Df5 19.Te7 Dg4 20.Dxg4 Sxg4 21.Tae1 b6 22.Tc7 d4 23.Sce4 Se5 24.f4 Sd3 25.Tf1 c5 26.f5! f6 27.Se6 Tf7 28.Tf3 Lxe6 29.Txf7 Lxf7 30.Txd3 Lxa2 31.Tg3 Kf7 32.Sd6+ Ke7 33.Sb5 Kf8 34.b3 Lb1 35.Sc7 Tc8 36.Se6+ Ke7 37.Txg7+ Kd6 38.g4 d3 39.Kf2 c4 40.bxc4 Txc4 41.Tg8 Ke5 42.Ke3 Te4+ 43.Kd2 Te2+ 44.Kc3 Txh2 45.Te8 Tc2+ 46.Kb4 a5+ 47.Kb5 Tb2+ 48.Kc6 d2 49.Sc7+ Kf4 50.Sd5+ Kxg4 51.Se3+ Kf4 Weiß gibt auf.

Nach dem Krieg fand 1947 zum ersten Mal wieder ein Simultanturnier statt, und zwar mit dem rheinischen Meisters Dr. Lange-Essen. 1948 war dann wieder Bogoljubow zu Gast. „Der Allgäuer“ schreibt dazu am 21. Juli: „Zu einem großen Erfolg wurden die Simultanvorstellungen des Schachgroßmeisters Bogoljubow in Kempten. Am ersten Abend waren auf Einladung des Schachklubs Kempten so viele Schachfreunde erschienen, daß nicht alle am Turnier teilnehmen konnten und sich Bogoljubow bereit erklärte, am folgenden Tage eine zweite Vorstellung zu geben. Bis aus Hindelang, Nesselwang und dem Walsertal waren Zuschauer und Mitspieler erschienen. Am ersten Abend spielte Bogoljubow an 48 Brettern und gewann hiervon 36 Partien, während er nur 4 verlor (Kutter und Fischer-Kempten, Pretzla und Wroblewski-Walsertal) und in 8 Partien ein Remis erzielte (Bunk, Heise, Kimmerle, Linder, Schneider, Weiher, Weiß und Wolf). Einen noch größeren Erfolg und Beifall erntete Bogoljubow am zweiten Abend. Er gewann hier von 29 Simultanpartien 26, verlor 1 (Heinrich) und erzielte 2 Remis (Hofmann und Pöllmann). Von diesen Partien spielte Bogoljubow 2 Partien blind und gewann beide in großer Form.“

 

Zum letzten Mal in Kempten weilte Bogoljubow dann am 21. Januar 1950. Dazu meldet „Der Allgäuer“: „Am letzten Donnerstag folgte der deutsche Schachmeister Bogoljubow einer Einladung des rührigen Kemptner Schachklubs zu einer Simultanvorstellung, die über 9 Stunden - eine bewundernswerte geistige Leistung - dauerte. An 51 Brettern wurde in zum Teil sehr spannenden und interessanten Partien heiß um den Sieg gestritten. Nachdem nach etwa 3 Stunden die schwächeren Teilnehmer ausgeschieden waren, konzentrierte sich das Interesse auf die restlichen 25 Partien, unter denen auch sich die beiden einzigen weiblichen Teilnehmer befanden, die sich wirklich ausgezeichnet hielten. So konnte Frl. Ruck ihre Partie gewinnen, und Frau Zeller verlor erst nach vollen 9 Stunden, nachdem sie ein angebotenes Remis ausgeschlagen hatte. Ebenso ist die Leistung des jüngsten Teilnehmers (Rothenbücher) hervorzuheben, der dem Meister ein Remis abtrotzte. Das Ergebnis des Abends war für den Meister mit 40 gewonnenen, 4 verlorenen (gegen Frl. Ruck und die Herren Schneider, Schähle und Bitterling) und 7 Remispartien (gegen die Herren A. Weiß, F. Weiß, Rasch, Rothenbücher, Dr. Guggenberger, Salabak und Hofmann) sehr gut. Trotz dieses Resultates äußerte er sich am Schluß des Abends sehr anerkennend über die Spielstärke der Kemptener und gab der Überzeugung Ausdruck, daß Kempten zur Zeit wohl den stärksten Spieldurchschnitt im Allgäu habe.“

 

In der Schachecke vom 18. Februar 1950 bringt Dr. Tröger dazu eine Partie mit dem Kemptener Vereinsmitglied Franz Pirc:

„Bogoljubow „schwindelt“

Weiß: Pirc (Kempten), Schwarz: Bogoljubow

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 Lc5 4.0–0 d6 5.h3 Sf6 6.d3 h6 7.Sc3 g5 8.Sxg5 (Bravo, für einen Simultanspieler sind solche Opfer immer gefährlich) 8...hxg5 9.Lxg5 Tg8 10.h4 Txg5 (Überscharf) 11.hxg5 Sg4 12.Df3 Dxg5 13.Sd5 Dh4 14.Dh3 Lxf2+ (Eine muntere Holzerei, bei der aber Weiß am längeren Hebelarm sitzt). 15.Kh1 Kd8 16.Dxh4+! 16.Lxh4 17.Txf7 Ld7 18.Tf8+ Le8 19.Txe8+ Kxe8 20.Sxc7+ Kd7 21.Sxa8 Se3 22.Kh2! (Richtig, der g-Bauer ist der wichtigste Trumph) 22...Lf2 23.g3 (Ungenau) Besser Kh3 und g4, womit ein Tempo gespart wird, (das später bitter fehlt) 23...Kc8 24.Lxc6! 24...bxc6 25.Kh3 Kb7 26.g4 Sxc2 27.Tf1? (Bis hierher hatte Weiß die Partie gegen seinen großen Gegner ganz vorzüglich gespielt und verdient Gewinnstellung erlangt. Jetzt strauchelt er: mit 27.g5!  Le3 erzwungen 28.g6  Lh6 29.Tf1 Ka8 30.Tf7 bel. 31. Th7 nebst Th8 konnte Weiß schnell gewinnen, da der schwarze Springer nicht mehr zum Eingreifen kommt. In der Folge verpaßt Pirc auch noch das Remis. Die Partie zeigt, wo wir in den Vereinen die Hebel ansetzen müssen: im Endspiel!) 27...Le3 28.Tf8 Sb4 29.Kh4 Sxd3 30.g5 Sf4 31.Tg8 d5 32.Kg4 dxe4 33.Kf5? (Kg3) 33...Sd5 34.Kxe4 Ld4 35.b3 Sc3+ 36.Kf5 e4 37.g6 Sd5 38.Te8 e3 39.Ke6 e2 40.Kf7 Le3 41.g7 e1D 42.g8D Df1+ 43.Ke6 Dh3+ 44.Ke5 Lf4+ 45.Ke4 Sf6+ Weiß gab auf. Nochmals: Endspiele üben! Endspiele üben!“

Eine weitere findet sich in der Schachecke vom 11. März 1950. Man sehe und staune („Damenmeisterin“! Wann gab es so etwas in unserem Club?):

„Bravo, Fräulein Ruck!

Die Kempter Damenmeisterin Frl. Ruck, die durch ihren schönen 2. Platz in der B-Klasse jetzt in die A-Klasse aufsteigt, schlug Deutschlandmeister Bogoljubow in einer sehr schönen Partie anläßlich dessen Simultanvorstellung. Die Partie ist vor allem deshalb interessant, weil nach schlecht geführter Eröffnung Frl. Ruck unverdrossen sich zu einem Überfall des gegnerischen Königs entschloß und diesen Angriff sehr geschickt und erfolgreich durchführte.

 

Weiß: Frl. Ruck (Kempten), Schwarz: Bogoljubow

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Sf6 4.d3 Le7 5.h3 0–0 6.Sc3 d6 7.Le3 Sa5 8.Lb3 c6 9.d4 Dc7 10.Dd2 b5 11.a3 Sxb3 12.cxb3 a5 13.0–0 (Schwarz hat Vorteil am Damenflügel) La6 14.Tfe1 b4! 15.Se2 Sxe4 16.Dc2 exd4? (gibt die wichtigen Felder d4 und später f5 und d5 für die weißen Figuren frei, gut war f5) 17.Sexd4 Sc5 18.Sf5! Lf6 19.Tad1 Tad8 20.Lg5! (Weiß ergreift die Chance am Königsflügel und beseitigt die einzige Verteidigungsfigur) Lxg5 21.Sxg5 g6 (schon ist die Schwächung da) 22.Te7 Td7 23.Txd7 Dxd7 24.Sxd6 (die weißen Figuren beherrschen das ganze Brett)

 

-> Stellung siehe Diagramm!

 

24. ... Sd3 (Verzweiflung, es drohte simpel Dxc5 oder Sdxf7) 25.Txd3 Lxd3 26.Dxd3 und der große Gegner gab nach wenigen Zügen die hoffnungslos gewordene Partie auf. Die rasenden weißen Rosse zertrampeln einfach den Widerstand des ungelenken schwarzen Turms.“

 

 

Frl. Ruck (Weiß) - Bogoljubow (Schwarz)

 

Stellung nach 24. Sf5xd6

Bogoljubow setzt mit 24. ... Sd3 fort, nach 25. Txd3 Lxd3 26. Dxd3 gab er auf.



Dr. Paul Tröger

Dr. Paul Tröger war zeitweise selbst Mitglied in unserem Schachclub und spielte in Kempten auch simultan, und zwar 1933, 1936, 1937 und 1948.

Die „Allgäuer Zeitung“ berichtet am 18. September 1933: „Wieder hat sich bestätigt, wie groß das Interesse in hiesigen Schachkreisen ist, wenn sich Gelegenheit bietet, einen unserer Meister persönlich kennenzulernen. So hatte sich auch am Samstagabend eine stattliche Anzahl Schachfreunde im Café Miller eingefunden, um den begabten, erst zwanzigjährigen Augsburger Stadtmeister Tröger in seinem großen Können zu bewundern. Es brauchte aber auch niemand sein Kommen zu bereuen. Was uns der junge Meister in vierstündigem Kampfe vorführte, übertraf wohl alle Erwartungen. Ein für dieses Alter selten abgeklärtes Spiel, baute er seine Partien sicher und stilgerecht auf, sich nirgends eine Blöße gebend, jedoch die kleinste Schwäche des Gegners wahrnehmend und überzeugend zum Siege führend. 24 Spieler stellten sich zum Kampfe mit ihm. Nur unserem Vereinsmeister Herrn Kimmerle gelang es, den jungen Meister zu besiegen. Herr Herb und Herr Westenrieder konnten schlichten. Alle anderen 21 mußten früher oder später die Waffen strecken. Herr Tröger hat somit bewiesen, daß er schon eine scharfe Klinge zu führen versteht und noch zu den besten Hoffnungen berechtigt.“

Und das „Allgäuer Tagblatt“ notierte: „Innerhalb vier Stunden vollendete der erst zwanzigjährige Meister in blendendem Spiele sämtliche Partien, von denen er 21 gewann, zwei unentschieden gestaltete und nur eine verlor. Wunderbare und verblüffende Schlagfertigkeit, gepaart mit feinster Kombination im Spiel, zeigte der jugendliche Meister neben größter Bescheidenheit und Ritterlichkeit Benehmen. Herzlicher Beifall lohnte die ausgezeichnete Leistung. Der jugendliche Schachspieler ist Student der Zeitungswissenschaft in Königsberg und spielt erst seit sechs Jahren Schach. Seit dieser Zeit eignete er sich die Fähigkeiten und das Können eines Schachspielers von hoher Klasse an. Das beweisen seine Erfolge in Prag, wo er Turniersieger des deutschen Schachklubs wurde. In Königsberg erzielte er in einem internationalen Turnier den zweiten Sieg. Weltmeister Bogoljubow wurde von ihm in einer Simultanvorstellung bereits nach 16 Zügen geschlagen. Seine Höchstleistung im Simultanspiel waren 35 Bretter sowie 4 Partien im Blindspiel. Die Vorführung am Samstagabend stellte das vorzügliche Können des Augsburger Meisters erneut unter Beweis, und alle die kamen zum Spielen und Zuschauen kamen in jeder Hinsicht voll auf ihre Rechnung.“

Am 24. April 1937 gab der Schriftleiter des „Allgäuer Tagblatts“ freundliche Ratschläge für das Simultanturnier mit Dr. Tröger: „Wer Schach spielt, weiß, daß eine Schachpartie darin besteht, daß zwei Gegner sich gegenübersitzen und abwechselnd einen Zug machen, bis das Ziel, das „Matt“, für einen Gegner erreicht ist. Wie spielt sich nun ein Simultanspiel ab, bei dem ein Spieler gegen mehrere antritt? Simultan bedeutet soviel wie gleichzeitig. Einer spielt also gegen mehrere gleichzeitig. An einem langen Tisch werden die Bretter wie üblich aufgestellt. An der einen Seite nehmen alle die Platz, die gegen den Meister spielen wollen, jeder an einem Brett. Der simultan Spielende geht nun von Brett zu Brett, macht einen Zug. Gegen je mehr er spielt, um so länger wird er brauchen, bis er einmal die Runde gemacht hat. Dadurch, daß ihm bei keiner Partie viel Zeit zum Nachdenken bleibt, dem Gegner aber vielfache Zeit zum Überlegen seines Zuges zur Verfügung steht, ist jedem Spieler die Möglichkeit gegeben, dem Meister härtesten Widerstand entgegenzusetzen und diesen Vorteil auszunutzen. Es ist selbstverständlich, daß der Simultanspieler bei solch schnellem Spiel nicht gegen kleine und größere Fehler gefeit ist. Jeder Spieler, der, wenn er allein dem Meister gegenüber säße, vielleicht Hemmungen hätte oder nervös würde, taucht in der Gemeinschaft aller gegen den Meister Spielenden unter, und nur allzu oft gelingt einem ganz unbekannten Spieler, der nie daran gedacht hat, ein Sieg über den Simultanspieler. Es ist demnach grundverkehrt, ängstlich zu sein. Wer bedenkt, welch kurze Zeit dem Simultanspieler für seinen Zug an jedem Brett zur Verfügung steht, wird verstehen, daß gerade der Listige, der Fallensteller, die meisten Aussichten auf Erfolg hat. Dadurch, dass die nebeneinander sitzenden Spieler sich noch gegenseitig helfen und beraten (4 Augen sehen mehr als 2) und von Kiebitzen (Zuschauern) unterstützt werden, wächst der Widerstand gegen den Meister noch mehr. Und schließlich: Wer verliert, hat sich noch lange nicht blamiert! Denn der Simultanspieler, der Meister, hat doch die Pflicht, zu gewinnen. Wer ihm ein Unentschieden abnimmt, hat einen Erfolg, wer ihn besiegt, hat einen großen Erfolg errungen. Und wer verliert, soll sich denken, daß der Meister es seinem Ruf schuldig ist, auch ein paar Partien zu gewinnen.“

Er fügte folgende Karikatur bei, aber ...

„Dann erschien der bayerische Spitzenspieler, der schwäbische und mehrfache Augsburger Meister, Dr. Paul Tröger, um sich den Gegnern zu stellen. Eigentlich hatte unser Hauszeichner von diesem Schachmeister eine ganz falsche Vorstellung. Sein Bild am Samstag entsprach keineswegs der Wirklichkeit. ... Er ist nicht zerstreut und konzentriert sich nur auf das Spiel.“

Die Ratschläge hatten kaum gefruchtet. „Nach kurzer Begrüßung des Vereinsführers Herb vom Schachklub nahm Dr. Tröger sofort die Partien auf. In rascher Folge wurden die Situationen entwickelt, und mit leidenschaftlichem Interesse verfolgten die Gäste die Spiele. Das Ergebnis: Gegen 47 Partien hatte er zu spielen, nebenbei bemerkt, die größte Simultanvorstellung, die je in Kempten war. Nach fünfstündiger Dauer waren 40 Partien für Dr. Tröger gewonnen, 2 verloren (an Dr. Streng-Dietmannsried und Bonenberger-Schelldorf), 5 Remis (an Engelhardt-Kempten, Heise-Kempten, Temper-Kempten, Dr. Sepp-Dietmannsried und von Oelhaven-Kempten).“



Fritz Sämisch

An illustren Namen von Großmeistern hat es in Kempten nicht gefehlt. So trat bereits vor dem Zweiten Weltkrieg der Großmeister Fritz Sämisch in Kempten auf, und zwar zunächst 1937 mit einer Blind-Simultan-Vorstellung. Dieser unglaublichen Gedächtnisübung hatte sich bereits 1932 der Bayerische und Münchener Schachmeister Schindler in Kempten unterzogen. Sein Ergebnis lautete 15,5:3,5 bei drei Remisen.

 

Zum Besuch von Sämisch 1937 notierte das „Allgäuer Tagblatt“: „Neben Dr. Aljechin ist Sämisch wohl der beste Blindspieler. Bei dem Simultanblindspiel erledigt der Meister seine Aufgabe allein durch seine Gedächtniskraft und geistige Sammlung. Er begibt sich jeder Möglichkeit, mit den Partnern in Verbindung zu treten bzw. Einblick in die Spiele zu gewinnen, ein besonderer Reiz für die Kiebitze, diesen eigenartigen Kampf zu beobachten. Doch lassen wir die Einzelheiten der Durchführung desselben die Schachfreunde am Samstagabend selbst kennen zu lernen. Die Elite der Kemptener Schachspieler wird versuchen, die Aufgabe des Großmeisters möglichst schwer lösbar zu gestalten. ... Es ist schon eine außerordentliche Leistung, auch nur eine Partie blind zu spielen (beim Durchschnittsspieler verwirrt sich schon nach wenigen Zügen das nur in der geistigen Vorstellung bestehende Stellungsbild). Der Simultanblindspieler gegen viele muß für jedes der vielen zu gleicher Zeit - unter ständigem Wechsel der Bretter - zu erledigenden Spiele die Stellung nach dem Gedächtnis unter stärkster Konzentration aufbauen und die Gegenzüge einem zur Führung der Steine Betrauten angeben. Erschwert wird das Denken noch dadurch, daß er jedes Feld, das von irgendeiner Figur beschritten werden soll, statt mit einem Buchstaben mit einem anderen Namen benannt. Zum Beispiel zieht der Springer von b1 nach c3, so sagt er an Berta 1 - Cäsar 3 oder Dame August 1 - Heinrich 8 usw. ! Dies zur genauen Verständlichmachung für den Partner. Solche Spieltechnik zu meistern, kann man nur wenigen Weltgrößen zumuten. Die Kemptener Schachfreunde haben heute abend nun die kaum mehr sich bietende Gelegenheit, ein solches Schachphänomen zu beobachten und zu bewundern und auch das Spiel unserer starken Spieler kennenzulernen.“

Der Meister erledigte seine Aufgabe mit Bravour. „Der Großmeister hatte 10 der besten Schachfreunde als Gegner. Was er ihnen und den Zuschauern bot, war mehr als meisterhaft. Um ganz nüchtern auszusprechen, was jeder empfand: es war ein Abend im Bereiche des Übersinnlichen. Hier saß ein begnadeter Mensch als Vermittler des Unbegreiflichen, das er uns nahebrachte durch die Leistungen seines Genies. Wer während des Spieles in den Roten Saal trat, erblickte folgendes Bild: An den Außenseiten zweier gegenüberstehender Tische saßen je 5 Spieler, die Gegner des Großmeisters. Zwischen den Tischen war ein schmaler Raum, in welchem der Beauftragte des Simultanspielers von Brett zu Brett ging, den Zug des Gegners rief und die Antwort des Meisters ausführte. Dieser selbst hatte an einem kleinen Rundtisch mit dem Rücken gegen die Partner Platz genommen. Vor ihm stand kein Spiel, sondern nur ein Tasse Kaffee. Er benützte auch keine Notizen oder sonstige Aufzeichnungen, wie ich es vor Jahren bei dem berühmten russischen Meister Alapin sah, der damals dazu „nur“ 3 Partien ohne Ansicht der Bretter spielte. Meister Sämisch kämpfte ohne alle Hilfsmittel. Wie er die ständig wechselnden Stellungen der 10 Spiele im Geiste auseinanderhielt, an dieser Frage steht für uns die Mauer, nach deren Jenseits man nicht fragen soll, weil es zwecklos ist. Sämisch spielte, obwohl er nach unseren Begriffen doch nichts sah, ein sehr lebhaftes Tempo. Nur bei sehr unklaren Stellungen verweilte er. Aber meist hörte man ihn sagen: „Bitte schneller, schneller!“. So kam es, daß Herr Rasch, sein Beauftragter, immer wieder zu früh am Brette stund und den Zug forderte. Und die „Sehenden“ an den Spielen, Partner und Gäste sahen Kombinationen und Taktiken des Meisters entstehen, die sie nicht vorgesehen hatten, wohl aber Meister Sämisch, der doch gar nichts sehen konnte! In vierstündiger Dauer rauschte ein sinnverwirrendes, immer wieder zum Staunen und Begeistern hinreißendes Erlebnis an uns vorüber. Sämisch besiegte die „sehende Kemptener Schachelite“ mit 6 gewonnenen, 3 unentschiedenen und einer verlorenen Partie.


Dazu ein Stellungsbild, zu dem Sämisch als Weißer, ohne Ansicht des Brettes spielend, Matt in 4 Zügen ankündigte.

 

 

1. Dxh7+, KxD, 2. Th3+, Kg7, 3. Lh6+, Kh7 oder h8, 4. Lf8++“

Im Jahre 1953 war Sämisch wieder in Kempten. Er spielte nicht blind, dafür gegen eine erstaunlich große Gegnerzahl. „Der Allgäuer“ schreibt: „An 41 Brettern demonstrierte der bekannte Schachmeister F. Sämisch-Berlin am Samstag im Restaurant „Kreuzstraße“ seine vollendete Beherrschung des königlichen Spiels. Der Schachklub Kempten stellte mit zahlreichen Gastspielern ein äußerst spielstarkes Aufgebot. Großmeister Sämisch mußte hierbei sein ganzes Können aufbieten, um ein günstiges Ergebnis zu erzielen. Wie vorauszusehen war, gab es sehr spannende Partien. Ein Teil der Ergebnisse konnte erst in der sechsten Spielstunde festgestellt werden. Großmeister Sämisch gewann von 41 Partien 30, verlor 3 (gegen Altmeister Rasch, M. Tänzel, Rieger) und remisierte 8 (gegen Kutter, Wenglortz, A. Schneider, Dr. Schulz, Hofmann, Dr. Guggenberger, Winkler und Rothenbücher).“

 

Das Foto zeigt Sämisch, wie er gerade gegen den damaligen Vorsitzenden Anton Pöllmann einen Zug ausführt.

Martin Tänzel gelang es, als Führer der schwarzen Steine dem Großmeister in der nach ihm benannten Variante in der Königsindischen Verteidigung den vollen Punkt – allerdings nach einem groben Schnitzer des Meisters – abzunehmen:

1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 d6 5.f3 0–0 6.Lg5 Sbd7 7.Dd2 c5 8.Sge2 a6 9.Td1 Tb8 10.Le3 Dc7 11.dxc5 Sxc5 12.Sd4 Se6 13.Le2 Ld7 14.0–0 Tbc8 15.Tc1 Tfd8 16.Tfd1 Sxd4 17.Lxd4 Lc6 18.Lf2 Dd7 19.b4 b5 20.cxb5 Lxb5 21.Sxb5 axb5 22.Dd3 Tb8 23.Tc2 Tb7 24.Tdc1 Tdb8 25.Da3 Lh6 26.Td1 De8 27.Db3 Tc8 28.Txc8 Dxc8 29.a4 bxa4 30.Dxa4 Sd7 31.b5 Sc5 32.Dc2 Lg7 33.Lxc5 Dxc5+ 34.Dxc5 dxc5 35.Td8+ Lf8 36.Lc4 Kg7 37.e5 e6 38.Kf2 Le7 39.Ta8 Lg5 40.g3 Ld2 41.f4 Lc3 42.Ke2 Ld4 43.Kd3 h5 44.Kc2 Le3 45.Kb3 Ld2 46.Td8 La5 47.Ld3?? Lxd8 Weiß gibt auf.

Alfred Schneider (Schwarz) trotzte dem Großmeister ein Unentschieden ab:

1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 d6 6.Le2 a6 7.f4 g6 8.Lf3 Sxd4 9.Dxd4 Lg7 10.Ld2 0–0 11.Df2 Tb8 12.h3 b5 13.0–0 Lb7 14.Tfe1 Sd7 15.Tac1 f5 16.exf5 Lxf3 17.Dxf3 Txf5 18.De2 e5 19.fxe5 Sxe5 20.b3 Dh4 21.Tf1 Tbf8 22.Txf5 Txf5 23.Tf1 Dd4+ 24.De3 Sf3+ 25.Txf3 Txf3 26.gxf3 Dxe3+ 27.Lxe3 Lxc3 28.Kf1 Kf7 29.Ke2 d5 30.Kd3 Lf6 31.c4 bxc4+ 32.bxc4 Ke6 Remis.



Wolfgang Unzicker

Das gleiche Kunststück gelang Alfred Schneider, wiederum als Schwarzem, gegen Großmeister Wolfgang Unzicker, der im Dezember 1958 zu Gast war:

1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lg5 Sbd7 7.Lc4 e6 8.0–0 b5 9.Lxe6 fxe6 10.Sxe6 Db6 11.Sd5 Db8 12.Te1 h6 13.Lxf6 Sxf6 14.Sxf6+ gxf6 15.Dh5+ Ke7 16.Sf4 Kd8 17.Df7 Le7 18.Sg6 Te8 19.Tad1 Dc7 20.Td2 Lg4 21.Sf4 Da5 22.c3 b4 23.Sd5 Dxa2 24.Dg7 bxc3 25.Sxc3 Dg8 26.Dxh6 Dg5 27.Dxg5 fxg5 28.Sd5 Le6 29.e5 Lxd5 30.Txd5 Kd7 31.Ted1 Remis

„Der Allgäuer“ schrieb zu diesem prominenten Gast: „Fast wie eine Entschuldigung klang es, als Schach-Großmeister Wolfgang Unzicker beiläufig bemerkte: „Wissen S’, i wohn’ nimmer in München.“ Er hatte sich beim Ober ein Paar Weißwürstl und ein Cola bestellt. Für einen waschechten Münchner schon fast eine Todsünde. Aber Wolfgang Unzicker hat sein Beruf als Regierungsassessor vor einiger Zeit nach Berchtesgaden verschlagen. Und dort wirken solche Vergehen gegen die Sitten der Väter vielleicht weniger schwer.

Zwischen Weißwurstbrotzeit und Schachspiel trafen wir den Großmeister in der Bahnhofsgaststätte. Im Silbersaal warteten schon an die 40 Freunde des königlichen Spiels, die ihr Glück gegen den Großmeister versuchen wollten. Simultan-Veranstaltungen werden solche Spiele ‑ einer gegen alle ‑ genannt. Und die kleinen Größen, so bemerkte Wolf Unzicker, haben natürlich immer eine besondere Freude, wenn sie bei derartigen Gelegenheiten ein Remis oder gar einen Sieg erzielen. In der Gesamtwertung aber hat der Großmeister solche Partien noch nie verloren.

Zehn Jahre war der Träger des Silberlorbeerblattes alt, als Vater Unzicker sein Wolferl mit dem braun-weiß karierten Brett vertraut machte. Und schon bald darauf hatte der Sohn seinen Vater übertroffen. Wenig später holte er sich die ersten Turniersiege. Mit 23 Jahren gewann der ruhige Beamte erstmals die Deutsche Meisterschaft. Das war im Jahre 1948, als die Titelkämpfe zum zweiten Mal nach dem Kriege ausgetragen wurden. Der Durchbruch zur Spitzenklasse war geschafft. Es ging weiter aufwärts. Internationale Turniere in Jugoslawien, Holland, Frankreich, Italien und natürlich Rußland, der Hochburg des Schachs, gehören zu den schönsten Erinnerungen des Großmeisters. Zwei Monate hielt er sich einmal in Moskau auf. Der persönliche Erfolg: Wolfgang Unzicker kennt heute die Grundbegriffe der russischen Sprache. Und der sportliche: Drei Remis gegen den Weltklassespieler Botwinnik.

Auch ein Schachspieler muß trainieren, um immer auf Draht zu sein. Die geeigneten Gegner in Deutschland sind aber zu weit verstreut, um ständig zu ihnen zu fahren. So bearbeitet Wolfgang Unzicker Schachecken verschiedener Zeitungen, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. „Man kann hierbei alle Spielzüge so gut durchanalysieren“, sagt der Großmeister. Wenig hält er vom Rauchen während des Wettkampfes. „Es reibt nur die Nerven auf, ohne zu beruhigen.“

Viel lieber geht Wolfgang Unzicker zum Ausgleich seinen drei Hobbys nach: Autofahren ‑ Skilaufen ‑ Schwimmen. Mit dem Skilaufen will er in diesem Winter wieder richtig anfangen. Bei den Voraussetzungen in Berchtesgaden ist das bestimmt kein Problem.“

 

Und zum Ergebnis: „38 Spieler aus Kempten und der näheren Umgebung stellten sich am vergangenen Samstag dem zur Weltklasse zählenden Großmeister Wolfgang Unzicker zum Kampf. Hans Hörmann, der Kreisvorsitzende des BLSV, fand recht herzliche Begrüßungsworte für den Gast aus München, der trotz seiner zahlreichen Verpflichtungen den Weg nach Kempten gefunden hatte. Die fast fünfstündige Vorstellung Unzickers zeigte, daß dieser auch als Simultanspieler heute in Deutschland eine Sonderstellung einnimmt. Mit 32 Gewinnpartien und sechs Remis (Schneider, Rothenbücher, Kehle, Breidenstein, Keller und Langmann) erreichte er ein Resultat, das die Ergebnisse von Sämisch und Bogoljubow, die ebenfalls in Kempten simultan spielten, beträchtlich übertrifft. Die zahlreichen Kemptener Schachfreunde, die als Spieler oder Kiebitze der Veranstaltung beiwohnten, konnten die besonderen Vorzüge einer großmeisterlichen Spielführung bewundern: eine souveräne Beherrschung der Eröffnung, Auswertung der geringsten positionellen Vorteile und eine vollendete Endspieltechnik.“

 

Nach den Erinnerungen von Hans Sontheim ging dieser gegen Unzicker als 16jähriger in einer „Spanischen Partie furchtbar unter. Meines Wissens verunglückte Unzicker damals vor Obergünzburg bei der nächtlichen Heimfahrt in Richtung München. Sein Wagen überschlug sich; glücklicherweise kam er selbst glimpflich davon.“



Eliskases

1961 weilte dann der argentinische Großmeister Eliskases in Kempten. Im „Allgäuer“ lesen wir: „Eliskases wurde 1913 in Innsbruck geboren, mit 13 Jahren Meister von Tirol und mit 16 Jahren österreichischer Meister. Heute ist er argentinischer Staatsbürger. Der Schachclub Kempten freut sich sehr über den berühmten Gast, der zur Zeit auf Turnee durch Deutschland reist. Unter anderem gab er am 27. November 1960 in Ulm eine Probe seines Könnens. Es ist zu hoffen, daß bei dieser Veranstaltung das Interesse der Schachfreunde nicht geringer ist als vor zwei Jahren bei der Veranstaltung mit Wolfgang Unzicker. Für jeden Anhänger des königlichen Spieles wird dieser Abend ein besonderer Höhepunkt sein, ganz gleich, ob er dem Geschehen nur als Zuschauer beiwohnt oder ob er selbst seine Fähigkeiten im Kampf gegen den Großmeister erprobt. Jeder kann mitspielen; eine Niederlage ist wahrhaftig keine Schande.“


„Aus dem ganzen Allgäu waren Schachfreunde zusammengekommen, um sich mit dem berühmten Mann zu messen und sich wahrhaft großes Schach zeigen zu lassen. Leider konnten nicht alle Interessenten zum Zuge kommen. So traten schließlich 15 von ihnen gegen den bayerischen Meister Rothenbücher an. Aber auch sie kamen auf ihre Kosten. Rothenbücher gewann sämtliche Partien. Eliskases nahm mit 40 Gegnern immer noch eine große Last auf sich, denn er ist es gewöhnt, gegen 30 Spieler anzutreten. Da außerdem die Stärke seiner Gegner sehr hoch war, mußte er sich an 5 Brettern geschlagen bekennen und remisierte 4 Partien. Der Großmeister zog es vor, an allen Brettern mit den weißen Figuren zu spielen. Seine Verlustpartien waren die gegen Maugg (Sonthofen), Ritter (Oberstaufen), Hess (Weitnau), Peuker und höchst überraschend auch gegen den fünfzehnjährigen Bluhm (beide Kempten), unentschieden trennte er sich mit Schmitt und Seibert (beide Kottern), Reicheneder (Kempten) und Schindele. Am längsten hielt sich der Kemptener Jugendspieler Stenger, der erst kurz vor zwei Uhr die Segel streichen mußte. Auch der tapferen Verlierer sei gedacht, die alle sehr harten Widerstand leisteten und zum Teil unglücklich kämpften. Es ist erwähnenswert, daß Eliskases besonders gegen seine jungen, in der Eröffnungstheorie noch unerfahrenen Gegner, eine Vorliebe für die schwierige „Wiener Partie“ zeigte. Das zahlreiche Erscheinen Jugendlicher war sehr erfreulich. Der jüngste war 11 Jahre und trat gegen Rothenbücher an.“

 

Hans Sontheim meint zu seiner Partie gegen Eliskases: „Nicht erfreut war der Großmeister über meine Spezialfiguren auf einem wackligen Schachbrett aus Holz. Ich versuchte es mit der Grünfeld-Indischen Verteidigung, leider vergeblich.“ Die Partie von Armin Reicheneder (als Schwarzer) gegen den Großmeister wurde im „Allgäuer“ von Dr. Tröger kommentiert:

„Kaltblütige Verteidigung

Weiß: Großmeister Eliskases, Schwarz: Reicheneder (Kempten) – Damengambit (Simultanspiel 61) - 1.Sf3 Sc6 2.d4 d5 3.c4 e6 4.Sc3 Sf6 5.Lg5 Le7 6.e3 0–0 7.Tc1 h6 8.Lh4 Se4 (Entlastung) 9.Lxe7 Sxc3 10.Txc3 Dxe7 11.cxd5 exd5 12.Lb5! (die Blockade beginnt) Sa5 13.Da4 b6 14.b4 Sb7 15.Lc6 Td8 16.0–0 a6 (besser gleich a5) 17.Tfc1 Ta7 (bitterer Zwang) 18.Db3 (Eliskases verschmäht den Bauerngewinn Lxb7, mit Recht, denn die Stellung gibt mehr her), Dd6 19.a3 a5 20.Lb5 axb4 21.axb4 c5 (gibt einen Bauern, um nicht zu ersticken) 22.bxc5 bxc5 23.dxc5 Dc7 24.Sd4 (mit Gewinnstellung, aber ...) Sa5 25.Dc2 Ld7 2 6.Lxd7 Dxd7 27.Ta3? (… die Abwicklung schlägt für Schwarz aus), Tda8 28.Tca1 Sc4! 29.Txa7 Txa7 30.Txa7 Dxa7 31.h3 (dieses Tempo rettet Schwarz), Dxc5 und Remis. Der 17jährige Kemptener Jugendspieler hat sich kaltblütig verteidigt.“



Gligoric, Wolk, Keene

Im selben Jahr war der auch jugoslawische Großmeister Gligoric an der Reihe. „Der Allgäuer“ gibt folgende Anekdote zum Besten: „In einer Straßenbahnfahrt trat er versehentlich einem Herrn auf den Fuß und entschuldigte sich geistesabwesend mit der bei Schachspielern übliche Redewendung, wenn sie eine Figur zurechtrücken wollen, „J’adoube“, worauf der ihm unbekannte Mann meinte: „Als Schachmeister sollten Sie wissen, daß man sich zuerst entschuldigt und dann die Figur berührt!“ Und weiter: „Auffallend war die schnelle Spielweise des Gastes aus Jugoslawien. Er zeigte trotzdem wundervolle Kombinationen und gab sich keineswegs mit Routinesiegen zufrieden. Verblüffend war seine Art, bei jedem Zug neue Drohungen aufzustellen. Fasziniert von diesem Stil, konnten sich die wenigsten trotz hoffnungsloser Stellung zur vorzeitigen Aufgabe entschließen, sondern ließen sich mattsetzen. Unter den Zuschauern befanden sich Großmeister Dr. Trifunovic, der jugoslawische Landesmeister 1961, und der internationale Meister Matulovic (beide Belgrad).“

 

1963 hatte man es mit dem Internationalen Meister Sigmund Wolk aufzunehmen. Er spielte zunächst „normal“ simultan und dann am nächsten Tag blind gegen zehn Gegner. Hans Sontheim erinnert sich: „Wolk verbuchte zwei Siege, zwei Remisen und zwei Niederlagen. Eine der beide Verlustpartien verlor er ausgerechnet gegen mich. Als Weißer zog Wolk (für Schwarz „an sich vernichtend“) Sc3-b5. Er hatte vergessen, daß ich ein paar Züge vorher den Bauern von c7 nach c6 gezogen hatte. Wolk stöhnte laut und schmerzlich, als ich mit dem c-Bauern den Springer schlug.“

 

1965 sollte wieder Gligoric in Kempten spielen, mußte aber kurzfristig absagen. Für ihn sprang der deutsche Großmeister Kaus Darga ein. Nach Hans Sontheim „beklagte er sich sehr über das „exotische Figurenmaterial“ einiger Gegner und monierte, er wisse nie, was los ist. So passierte es ihm auch, daß er gegen einen schwächeren Spieler glatt die Dame einstellte und aufgeben mußte.“

 

1982 wurde (angeblich!) das 90jährige Jubiläum des Schachclubs Kempten gefeiert, und zu diesem Zweck stellte sich der englische Großmeister Raymond Keene seinen Allgäuer Gegnern. Keene war 1978 Sekundant des Herausforderers Viktor Kortschnoi im Kampf um die Weltmeisterschaft gegen Anatoli Karpow.

Der damalige Vorsitzende, Dr. Rost, schrieb in der Chronik: „Es sollten etwa 30 Mitspieler sein und waren dann 36. Keene erklärte sich freundlicherweise mit der großen Zahl einverstanden. Er wirkte äußerlich eher unscheinbar, nichts Stattliches und Arrogantes, kein „Star“. Liebenswürdig und gutmütig. Die Schnelligkeit und Sicherheit des Großmeisters beeindruckend. Der Abend dauerte bis gegen 1 Uhr, 6 Stunden. Nur kleine Kaffeepause für Keene. Er gewann 24 Partien und remisierte 12, zuletzt gegen Köpplinger, der Gewinnchancen hatte. Viele Zuschauer.“



Vlastimil Hort, Matthias Wahls

Zum 100jährigen Jubiläum unsres Clubs (heute wissen wir, daß es das 114jährige war!!!) luden wir den tschechischen Großmeister Vlastimil Hort ein. Die „Allgäuer Zeitung“ schrieb am 19. Mai 1992: „Sieg-Chancen hatte sich kaum einer der Hobby-Schachspieler ausgerechnet. Schließlich hieß der Gegner Vlastimil Hort, der internationale Großmeister und amtierende deutsche Meister, der zum Simultan-Turnier nach Kempten gekommen war. Hort nahm es mit 40 Herausforderern gleichzeitig auf - und diese verlangten ihm einiges ab. Denn erst nach sechseinhalb Stunden war die letzte Partie beendet. 30 der 40 Spiele entschied der gebürtige Tschechoslowake, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt, für sich. Neben acht Remis verlor er lediglich zweimal. Manfred Müller (SC Kempten 1892) und Dieter Schwarzer (SC Obergünzburg) schafften es, dem Weltklasse-Mann Niederlagen beizubringen (siehe auch Allgäu-Sport).

Das Simultan-Turnier war der Höhepunkt der Festveranstaltung, zu der der Schachklub Kempten anläßlich seines 100jährigen Bestehens eingeladen hatte. Schachfreunde aus dem ganzen Allgäu sowie aus Würzburg und Pforzheim waren angereist. Manch einer hatte sich eine besondere Taktik zurechtgelegt, um den Großmeister in Verlegenheit zu bringen.

Einige blätterten noch in ihrer Fachliteratur, da reichte ihnen Hort auch schon die rechte Hand zur Begrüßung und machte gleichzeitig mit links den Eröffnungszug. Wie ein eiliger Spaziergänger wanderte der Meister von Brett zu Brett. Bereits nach den ersten Runden hatte er den meisten seiner Kontrahenten einige Figuren abgenommen. Mitmachen durfte bei diesem Turnier jeder. So war der jüngste Spieler erst neun Jahre alt Damen gab es jedoch nur auf dem Schachbrett, denn Frauen nahmen an der Veranstaltung nicht teil. Was in lockerer Atmosphäre begonnen hatte, wurde schließlich zur Probe für Ausdauer und Nerven. Mehr als sechs Stunden konzentriertes Schachspiel ging auch an Vlastimil Hort nicht spurlos vorüber.

Aber „Übung macht den Meister, der Beste soll gewinnen“, hatte er selbst zu Turnierbeginn die Parole ausgegeben. Und der Beste in 30 von 40 Partien war am Ende der Großmeister persönlich. ...“

 

Hans Sontheim kommentiert seine Partie gegen Hort so: „Als Schwarzer behandelte ich die Eröffnung recht unglücklich und stand entsprechend bedenklich. Irgendwie konnte ich im weiteren Verlauf doch noch ausgleichen und drohte einen Bauern zu gewinnen. Mein schüchternes Remisangebot nahm Hort sofort an.“

 

Hier eine der beiden Verlustpartien von Hort: (aus der Schachecke der „Allgäuer Zeitung“ vom 27. Juni 1992; Anmerkungen von Heinz Däubler):

„Dieter Schwarzer (SC Obergünzburg) bekam die Oberhand, als der Großmeister seine Stellung überzog und zu optimistisch operierte. Weiß: Hort, Schwarz: Schwarzer 1.d4 Sf6 2.Sc3 e6 3.e4 d6!? (mit 3.- d5 hätte Schwarz in die Französische Partie überleiten können.) 4.Sf3 Sbd7 5.Ld3 Le7 6.0–0 0–0 7.Te1 e5 8.h3 b6 9.a4 exd4 10.Sxd4 Se5 11.Le2 Lb7 12.f4 Sg6 13.Ld3 Weiß ist gut aus der Eröffnung herausgekommen. Er verfügt über Raumvorteil und das bessere Zentrum.) 13...Sd7 14.Sf5 Lf6 15.Dg4!? (Die Aufstellung der Dame auf g4 hat Schattenseiten, wie die weitere Folge zeigt.) 15...a5 16.Ld2 Te8 17.Te2 Sc5 18.Tae1 Sxd3 19.cxd3 Lc8! (Fesselt unangenehm den Sf5.) 20.Sd5?! (zu optimistisch. Der Textzug sollte besser durch 20.Lc1 vorbereitet werden.) 20...Lxb2 21.Kh2? (Der Verlustzug! Die Riposte war bei knapper Bedenkzeit nicht sofort zu sehen. Zumindest witterte der Großmeister keine Gefahr.) 21...c6! 22.Sde3 Sxf4! (23. Dxf4 verliert nach 23.- Le5 die Dame) 23.Sh6+?! (23.Tf2 Sxd3 ist unakzeptabel. Etwas besser ist 23.Sc4, wenngleich Weiß nach 23.- Sxe2 24.Sxb2 Lxf5 25.exf5 De7 26.Sc4 b5 27.Se3 De5+ 28.Kh1 Sd4 29.Lc3 c5 das bessere Ende für sich hat.) 23...Kf8 24.Dg3 Sxe2 25.Df3 Le5+ 26.Kh1 Sg3+ 27.Kg1 gxh6 (Die Partie ist aufgabereif.) 28.Sc4 Ld4+ 29.Kh2 Te6 30.Dxg3 (Schwarz steckt einen Springer ins Geschäft.) 30...Tg6 31.Df3 Le6 32.Se3 Le5+ 33.Kh1 Tg3 34.Df2 Df6 35.De2 Lxh3! (Der entscheidende Schlag.) 36.gxh3 Txh3+ 37.Kg1 Tg3+ 38.Sg2 Ke7 39.Tf1 Dg6 40.Le3 Tg8 41.Tf2 c5 42.Kf1 Txe3! (Wickelt in ein gewonnenes Bauernendspiel ab.) 43.Dxe3 Ld4 44.Dh3 Lxf2 45.Kxf2 Dxg2+ 46.Dxg2 Txg2+ 47.Kxg2 b5 48.axb5 a4 49.b6 Kd7 50.e5 (Den Rest hätte sich GM Hort getrost schenken können.) 50...dxe5 51.Kh3 a3 52.b7 Kc7 53.Kg4 Kxb7 54.Kh3 a2 55.Kh4 a1T  - 0–1.“

Im September 2003 folgte schließlich die bislang letzte Simultanveranstaltung in Kempten - dieses Mal zum 125-jährigen Jubiläum, das allen mathematischen Regeln zum Trotz gerade einmal 11 Jahre nach den Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum stattfand. Grund hierfür war, dass sich das bislang angenommene Gründungsjahr 1892 bei Nachforschungen in der Vereinshistorie als falsch erwiesen hatte und der Vereinsname deshalb in 1878 geändert wurde.

 

Dank guter Kontakte unseres Schachfreundes Heinz Martin konnte zu diesem Jubiläum der Hamburger Großmeister Matthias Wahls gewonnen werden. Leider lud das hochsommerliche Wetter an diesem 20. September 2003 mit strahlendem Sonnenschein und viel Wärme nicht zum Schachspielen ein, weshalb sich wesentlich weniger Spieler zu diesem Simultanturnier einfanden, als es der Anlass verdient gehabt hätte. Die 17 Gegner wehrten sich dafür umso tapferer gegen den hohen Favoriten und hatten dem Großmeister nach viereinhalb Stunden immerhin 4 Remis abgerungen, er blieb an diesem Nachmittag jedoch ungeschlagen. Der Tag klang dann mit einem gemütlichen Beisammensein aus, bei dem Matthias Wahls interessante Geschichten aus seiner Karriere zum Besten gab.

Weitere Fotos von dieser Veranstaltung finden sich im Fotoalbum.